Parallelen zwischen Candidtor und 1860

Dieser Artikel ist im Brunnenmiller Ausgabe 64 in gekürzter Version am 08.10.2022 erschienen.

Treue Leserinnen und Leser des Brunnenmillers kennen unsere Initiative „Candidplatz für alle“ bereits aus früheren Ausgaben. In diesem Artikel möchten wir darauf eingehen, was unser Protest gegen das geplante Candidtor mit euch als Löwenfans zu hat. Da alle in unserer Initiative Aktiven in Giesing wohnen oder andere besondere Verbindungen nach Giesing haben, verwundert es nicht, dass bei vielen von uns 60 eine große Rolle spielt. Einige von uns gehen zu jedem Heimspiel und genießen es, direkt im Viertel des eigenen Vereins zu wohnen. Manche wohnen in Giesing, weil sie 60 Fans sind und andere sind 60 Fans, weil sie in Giesing groß geworden sind. Verein und Viertel sind nicht losgelöst voneinander zu betrachten. Aber auch ein Problem eint Verein und Viertel: das Problem mit dem Investor. Da wir Parallelen beim Candidtor und der KgaA und ebenso bei der Gentrifizierung unseres Viertels und der Modernisierung des Fußballs sehen, haben wir uns entschieden, das in diesem extra Artikel zu beleuchten. Wir haben uns an den Brunnenmiller gewandt, da er das meistgedruckte Löwenmedium ist und wir mit unserem Text so viele Löwenfans wie möglich erreichen wollen.
Beginnen wir mit dem Investor, der das Candidtor bauen will. Hierbei handelt es sich um ein Duo aus dem in Starnberg lebenden, in der Öffentlichkeit besonders präsenten Michael Ehret und Stefan Klein. Beide sind also weder in Giesing aufgewachsen, noch leben sie momentan dort. Die verschiedenen Objekte, die das Unternehmen besitzt und verwaltet, sind momentan ca. 850 Millionen Euro wert. Da kann man sich vorstellen, wie Michael Ehret, der in München das Unternehmen repräsentiert, in Starnberg wohnt. Dieser Investor gehört einer anderen Klasse an als die meisten Menschen in Giesing. Seine Lebensrealität ist eine ganz andere als unsere. Aber warum hat der Investor dann überhaupt ein Interesse daran, das Candidtor in unser Giesing zu bauen? Weil er sich Profit erwartet. Dasselbe kennen wir aus einem anderen für uns relevanten Lebensbereich. Warum hat Hasan Ismaik aus Jordanien, der keinerlei Bezug zu 60 hat, das Interesse, an diesem Verein mitzuwirken? Weil er sich Profit erwartet.
Die Modernisierung des Fußballs kommt den meistens Fans wie ein fast natürlicher Prozess vor, zu dem es keine Alternative gibt. Seit letzter Saison gibt es in der dritten Liga Rückenwerbung auf den Trikots. Dieser Schritt wirkt logisch. Es gibt einen freien Platz auf dem Trikot und Unternehmen, die Geld dafür zahlen würden, ihre Werbung dort abdrucken zu können. Die Vereine brauchen das Geld, um konkurrenzfähig zu bleiben, um endlich den Absprung aus der unrentablen 3. Liga hoch in die 2. zu schaffen. Also klar, natürlich wird diese Einkommensquelle für die Vereine genutzt. Tut ja auch niemandem weh. Oder? Für jüngere Fußballfans ist Fußball ohne Trikotwerbung nicht wirklich vorstellbar. Die Trikotwerbung wurde jedoch erst 1973 von Jägermeister und Eintracht Braunschweig eingeführt. Es gab mal einen Fußball ohne Trikotwerbung und es wurde sich aktiv dafür entschieden, Werbung auf Trikots zuzulassen. Es gab auch einmal einen Fußball ohne KgaAs, ohne Investoren, sondern nur mit Vereinen, die den Mitgliedern gehören. Um die komplette Öffnung für Investoren zu verhindern, wurde die 50+1-Regelung geschaffen. Der 50+1-Regel verdanken wir als 60-Fans sehr viel. Aber auch hier gab es aktive Entscheidungen, um die Regelung zu umgehen. 1999 wurde sie zuerst nur für Bayer bei Leverkusen aufgeweicht, dann für VW bei Wolfsburg, für Dietmar Hopp bei Hoffenheim und RedBull umgeht die Regel damit, dass der „Verein“ aus unter 20 stimmberechtigten Redbull-Mitarbeitern besteht. Auch bei unseren Quasinachbarn aus Datschiburg gibt es berechtigte Zweifel daran, ob 50+1 aufrechterhalten werden kann, wenn der Hauptinvestor der KgaA gleichzeitig Präsident des e.V.s ist. Das waren jetzt fünf Vereine aus der aktuellen Bundesliga. Also noch lange nicht die Mehrheit der Clubs. Und diese Teams spielen teilweise wirklich schönen Fußball, bedrohen ganz vielleicht sogar die nächste Meisterschaft der Bayern. Was ist denn da überhaupt das Problem? Für diese fünf „Vereine“ mussten fünf Vereine mit großer Anhängerschaft und Historie absteigen, denn es gibt nun mal begrenzte Plätze. Vereine wie Rot-Weiß Essen, Duisburg oder unser TSV spielen in der 3. oder der Regionalliga, weil sie durch Misswirtschaft und damit zusammenhängenden sportlichen Misserfolg abgehängt wurden. Natürlich sind dafür letztendlich immer vereinsinterne Fehlentscheidungen verantwortlich. Es stellt sich jedoch trotzdem die Frage, wie es sein kann, dass sich durch den Einstieg von Unternehmen oder reichen Privatpersonen die Summen, mit denen im Fußball agiert wird, derartig verschieben, dass der Kader von RB Leipzig z.B. 2020 ganze 125,2 Millionen wert war, wohingegen beispielsweise im Kader des SC Freiburg nur 45,2 Millionen stecken. Ich habe diese beiden Vereine als Beispiel gewählt, da sie letzte Saison im vielleicht metaphorischsten DFB-Pokal-Finale überhaupt gegeneinander angetreten sind. An diesem Tag hat ganz Fußballdeutschland einer Seite die Daumen gedrückt und die andere hat gewonnen. Das Bild, wie RB-Spieler Kampl dieses Drecksgetränk in den Pokal kippt, verfolgt mich und bestimmt viele andere bis heute. Doch während alle echten Fußballfans diesen Tag als einen der schlimmsten im deutschen Profifußball einordnen, freuen sich verschiedenste Unternehmer. Es klappt! Mit effektiver Arbeit und viel Geld und ganz ohne echte Liebe und Leidenschaft können Titel gewonnen werden. Es geht auch ohne Märchen. Dieser erste Titel von RB wird sicher einige Nachahmer dazu motivieren, das Projekt „Profimannschaft als Werbe- und Investitionsmöglichkeit“ wirklich in Angriff zu nehmen. Auch der uns bekannte Hasan Ismaik hat bereits 2017 im Zuge der Debatte, ob 50+1 auch im Amateurbereich gilt, offenbart, dass RedBull ein Vorbild für ihn darstellt: „Red Bull hat in der fünften Liga angefangen, richtig?“. Nur dadurch, dass 50+1 eben in allen Ligen gilt, konnte sein Plan verhindert werden, sich unseren gesamten Verein anzueignen.
Wenn über 50+1 diskutiert wird, bringen vor allem am sportlichen Erfolg interessierte Fans, die dem modernen Fußball nicht besonders kritisch gegenüberstehen, oftmals das Argument, dass große Investitionen notwendig sind, um im internationalen Vergleich mithalten zu können. Hier stellt sich als erstes die Frage, ob dies wirklich der Fall ist. Wenn man die momentane Bundesligatabelle betrachtet, findet man unter den Top 3 Eisern Union und den SC Freiburg. Beides Vereine, die man vor wenigen Jahren niemals vor Bayern, Dortmund und Leipzig gesehen hätte. Diese Vereine haben lediglich durch nachhaltiges Wirtschaften, sinnvolle Mannschaftsplanung und unterstützende Stimmung im Vereinsumfeld ihr momentanes Niveau erreicht. Es können also auch Bilderbuch-e.V.s sportlichen Erfolg haben, zumindest deutschlandweit. Im internationalen Vergleich der Spitzenklasse sieht das Ganze nochmal anders aus. Hier haben deutsche Mannschaften in letzter Zeit oft keine Chance. Wenn man sich nun aber beispielsweise den Wert des Kaders von Barcelona anschaut, sieht man, dass die Differenz zwischen diesen 813 Millionen und den Bundesligakadern noch größer ist als die zwischen RB und Freiburg. Barcas Spieler sind mehr als das sechsfache wert als die von RB, mehr als das achtzehnfache als der Kader SC Freiburg und sogar mehr als das hundertdreißigfache als das aktuelle Löwenteam. Auch wenn es sich um absurde Summen handelt, werden durch die Verhältnisse die wahnsinnigen Unterschiede deutlich, die sich sicher auch im sportlichen Vergleich zeigen. Daraus kann gefolgert werden, dass die 50+1-Kritiker durchaus recht haben: Wenn man mit Vereinen wie Barca, PSG, City, usw. mithalten will, braucht es deutlich mehr Geld. Jeder, der internationalen Fußball verfolgt, sieht aber auch an den Top-Clubs, wo diese absurden Geldmengen herkommen. Ob aus menschenrechtsverletzenden Autokratien, unfassbaren Schulden oder bereits für die nächsten Jahrzehnte verkaufte TV-Rechte – nachhaltig, vertretbar oder sinnvoll ist keiner der Geldursprünge. Spätestens hier stellen sich folgende Fragen: Wer sagt, dass es beim Fußball allein um den größtmöglichen sportlichen Erfolg, der mit allen Mitteln erzwungen werden kann, gehen sollte? Wollen wir, dass unser Fußball so aussieht? Profit und sportlicher Erfolg über allem? Und wer profitiert dann überhaupt davon? Bestimmt nicht die Fans. In England beispielsweise leiden Fußballfans extrem unter dem großen Einfluss von Investoren in der Premierleague. In Newcastle zahlen Fans im Rahmen der Kampagne „This club is our club“ gerade monatlich Geld auf ein Konto ein, um irgendwann wenigstens ein Prozent ihres Vereins zurückkaufen zu können. Sie wünschen sich einen Fußball, der nicht profitorientiert funktioniert. Auch für mich und wahrscheinlich den Großteil von uns geht es beim Fußball um deutlich mehr. Sonst wären wir auch alle keine Sechzigfans. 🙂 Es geht um unsere Lebenswelten, unseren Spieltag, unsere Emotionen und Geschichten rund um 60 München. Wir lieben und leben den Verein und ohne uns als Fans wäre er nichts.
Genau hier sehe ich die Parallele zu Giesing. Wir als Giesingerinnen und Giesinger sind das Viertel, wir leben hier und machen das Viertel lebenswert. Auch alle Freundinnen und Freunde Giesings aus dem Rest von München, Bayern und der ganzen Welt machen das Viertel zu diesem für uns einzigartigen Ort.
Wie oft war dieser Starnberger-Investor schon am Skatepark am Candidplatz? Wie viele Löwentreffs haben dort bereits stattgefunden? Wie oft hat er sich wohl bisher mit dem Fahrrad den Candidberg hochgekämpft? Wie oft war er schon in der Allgemeinversicherten-Praxis im Ärztehaus, an dessen Platz er sein Candidtor bauen lassen will? Wie viele Bierchen hat er sich in einer der Boazn schmecken lassen? Vermutlich noch keins.
Auch bezogen auf Giesing könnten Menschen, die das Äquivalent zum modernen Fußball in der Viertelpolitik und die Gentrifizierung, nicht ganz so kritisch sehen, anbringen: Wenn Giesing mit anderen Vierteln mithalten will, muss es sich verändern. Wenn wir auch eine „Wahnsinns-Landmark an einem absoluten Unort“, „eine Ikone“, „einen mutigen architektonischen Wurf“ möchten, brauchen wir einen Geldgeber von außen, einen Investor. Diese Worte wurden jeweils vom Architekten, den Investoren oder Lokalpolitikern verwendet, alle in dem Kontext, dass Giesing ein Gebäude bräuchte, um es “aufzuwerten”, lebenswerter und attraktiver zu machen. Ich bin jedoch der Meinung, dass Giesing schon längst so eine Landmark bzw. eine Ikone von einem Bauwerk hat und das steht oben am Berg. Das GWS reicht uns aus, ich könnte mir keine bessere „Ikone“ vorstellen. Wir brauchen stattdessen andere Veränderungen in unserem Viertel. Mir als junger Person fallen direkt Freiräume ein. Wir brauchen Orte, an denen wir zusammenkommen, gemeinsam kreativ werden, uns weiterbilden oder einfach nur rumhängen können. Meiner 75-jährigen Nachbarin fallen sicher andere Dinge ein. Mehr Barrierefreiheit im Viertel oder ein Ort, an dem sie sich mit ihren Freundinnen zum Schafkopfspielen treffen kann. Die junge Familie von gegenüber träumt vielleicht von einer neuen Kita, damit sie ihre Kids nicht jeden Morgen so weit fahren müssen und der Boazn-Wirt eine Tür weiter wünscht sich nichts sehnlicher als, dass die Miete auf keinen Fall teurer wird, weil er sonst zumachen muss. Auch wenn dies verschiedene Interessen sind, stimmen alle darin überein, dass sicher niemand ein Candidtor braucht, das zum Großteil aus Büros bestehen soll. Im Gegenteil, dieser Turm wird mit der weiteren Gentrifizierung des Viertels all dies bald unmöglich machen. Wieso lohnt es sich für Ehret+Klein überhaupt, dieses Tor dorthin zu stellen? Warum ist unser Lebensraum ein Spekulationsobjekt? Wieso sollte jemand anderes über unser Leben, unsere Bedürfnisse und Wünsche entscheiden?
Wir selbst kennen unsere Interessen am besten. Unser Viertel und unser Fussballverein gehören uns und wir sollten dort die Entscheidungen treffen. Wir als Giesingerinnen und Giesinger sind das Viertel und wir als Löwenfans sind der Verein. Weder Viertel noch Verein dürfen Investitionsprojekte werden bzw. bleiben. Kein Reicher, egal ob aus Starnberg oder Jordanien, sollte sich an unseren Lebensrealitäten bereichern.
Aber was bedeutet diese Erkenntnis nun für uns? Wir sind alle unterschiedlich, haben aber ein gemeinsames Ziel: unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Es geht nicht darum, einen Kompromiss mit den Investoren zu finden, sondern die grundlegende Frage zu stellen: Warum darf jemand aus Profitinteresse über unser Leben bestimmen? Warum bestimmen nicht die Einwohnerinnen und Einwohner über die Gestaltung Giesings und warum bestimmen die Fans nicht über die Zukunft des Vereins? Man muss keinen Kompromiss finden, wenn die eine Seite eigentlich keine Berechtigung haben sollte, überhaupt etwas mitzuentscheiden.
Die andere Seite ist jedoch leider ziemlich mächtig, sonst wären wir den Ismaik ja schon längst los. Da wir momentan am kürzeren Hebel sitzen, müssen wir alles daransetzen, dass sich das ändert. Weder die Modernisierung des Fußballs, noch die Gentrifizierung unseres Viertels sind alternativlos. Wir müssen uns zusammentun, uns austauschen und uns gemeinsam widersetzen. Wenn dir Giesing am Herzen liegt, komm zu “Candidplatz Für Alle.” Wir haben durch unser Engagement unter Anderem bereits erreicht, dass auf unseren Druck hin eine Einwohnerversammlung stattfinden konnte, in der viele Candidtor-kritische Anträge angenommen wurden. Doch das ist erst der Anfang. Das Tor steht noch nicht, das heißt, wir können und müssen JETZT handeln und unsere Interessen durchsetzen. Der momentane Plan sieht vor, dass das Tor 67 Meter hoch wird. Das bedeutet, dass man es von der Westkurve aus sehen wird, sollte es gebaut werden. Ich glaube, darauf können wir alle verzichten.
Und wenn dir 60 am Herzen liegt, ist es essentiell, dass du dich fanpolitisch gegen Investoren und deren Einfluss im Fußball engagierst. Jede und jeder aus der Kurve hat hier unterschiedliche Möglichkeiten. Es gibt z.B. bundesweite und internationale Fanbündnisse, in die man sich aktiv einbringen oder die man anderweitig unterstützen kann. Werde Vereinsmitglied, wenn du noch keins bist. Informier dich über das vereinspolitische Geschehen und ergreife die Mitbestimmungsmöglichkeiten, die wir momentan noch haben. Das heißt, komm zur Mitgliederversammlung und nutze dein Wahlrecht! Wir halten diesen Zustand schon zu lange aus. Es ist unser Verein und das soll er auch komplett wieder werden!

Artikel von: Vera Ziegler